Droben auf dem Kamm wehte ein heftiger Wind, der mir fast das Hemd vom Leib riss. Ich wollte mich dort nicht lange aufhalten, aber die Landschaft faszinierte mich, weshalb ich auf einen Felsen kletterte, um alles noch besser sehen zu können.
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Vorgelesen Fragment:
Michel:
Droben auf dem Kamm wehte ein heftiger Wind, der mir fast das Hemd vom Leib riss. Ich wollte mich dort nicht lange aufhalten, aber die Landschaft faszinierte mich, weshalb ich auf einen Felsen kletterte, um alles noch besser sehen zu können. Das dunkelgrüne Gebirge schien sich endlos nach Süden hin auszudehnen. Auf der Nordseite, von wo der kalte Wind blies, lag eine Ebene, die ganz entfernt in einem glitzernden Saum endete. Die Wolken schoben sich über das Land, bildeten große, dunkle Flecken auf dem grünen Boden. In den Tälern und auf den Anhöhen erblickte ich kleinere Ansammlungen von Häusern und Dörfern, von denen ich zwar schon gehört hatte, aber noch nie dagewesen war. Jetzt sah ich sie alle beisammen, dort unten in der Tiefe, und plötzlich mir wurde klar, wie hoch der Kamm eigentlich war. Ich kreuzte meine Hände vor der Brust und spürte, wie mein Herz pochte. Die Sonne brach gerade durch die Wolken, zu kurz, um mich aufzuwärmen, jedoch lange genug, um die glänzende Linie in der Ferne aufleuchten zu lassen. Da erkannte ich auf einmal, was das war: das Meer! Das musste es sein. Ich hatte davon gehört, von unendlichem Wasser, von Fischern und Booten. Und, dass es sehr gefährlich sei, weil man darin ertrinken konnte.
Die Kälte zwang mich, den Felsen herabzuspringen und weiterzugehen. Ich hatte den Kamm überquert, der Pfad fiel nun so steil ab, wie der Aufstieg auf dem Hinweg steil gewesen war. Ich musste die Schafe vor mir herschieben. Die Steine auf diesem schmalen Pfad waren scharfkantig. Ich dachte an die Holzschuhe in meiner Jutetasche, die ich über der Schulter trug, wollte sie aber noch nicht anziehen. Es dauerte nicht lange, bis ich die ersten Häuser sah. Der Geruch von Holzfeuer stieg mir in die Nase. Ich sah zwei Hütten, aus denen eine dicke Rauchwolke aufstieg, und einen Mann, der an eine Schaufel [20] gelehnt, zusah. Da verstand ich, dass dies die Meiler, die Brandhügel waren, von denen Julien mir erzählt hatte. Soweit er wusste, waren dort oben auf dem Berg mehrere Holzkohlebrenner am Werk, und ich würde dort wohl fürs Erste Arbeit finden können. Es beruhigte mich, dass ich es nun mit eigenen Augen sah, ich also am richtigen Ort angekommen war. Ich zählte die Häuser, die ich von meinem Platz auf dem Hügel aus sehen konnte. Nur drei davon hatten Fenster und Türen und ein Dach. Die anderen waren eingestürzt.
Colombe:
Es war ein Unfall. Es war nicht seine Schuld. Vielleicht war es ja meine Schuld. Schuld oder nicht. Es ändert nichts an dem, was passiert ist und nichts an den Folgen. Was macht es für einen Sinn, jemandem die Schuld für etwas zu geben, was ohnehin nicht ungeschehen gemacht werden kann? Und wenn einer etwas tut, tut er das nicht ohne Grund. Dem geht immer etwas voraus. Ein Kuss, ein Schlag, ein Wort kann den Lauf der Dinge ändern.
Es geschah an dem Tag, an dem Amparo auf den Berg kam. Das war an einem Sonntag im Spätsommer. Ich hatte Amparo vorgeschlagen, uns zu besuchen. Da hat es angefangen.
Mehr lesen:
Deel 1: Michel
1838-1890
5.
Der Mann mit der Schaufel hustete und spuckte ins Gras. Dann schritt er um den größten Meiler herum, es sah aus, als stoße er mit der Schaufel auf Schulterhöhe in die Wand des Gebäudes. Der Rauch zog ab und der Mann schaute auf, in meine Richtung. Ich duckte mich weg. Ich wollte noch nicht gesehen werden. Ich blieb ich im Gebüsch hocken und prüfte die Umgebung. Das Erste, was mir brauchbar erschien, war eine steinerne Schutzhütte, nicht weit von mir. Jetzt sah ich noch ein paar auf der Anhöhe. Falls ich nicht gleich ein bewohnbares Haus fände, könnte ich fürs Erste in einer der Hirtenhütten schlafen. Ich band meine Schafe aneinander und zog sie hinter mir her zur nahegelegensten Hütte. Die war groß genug für uns vier, und ich konnte aufrecht in ihr stehen. Ich schob die Schafe nach draußen, ließ sie auf der Rückseite des Häuschens grasen. Mit einem Reisigbündel fegte ich alle Blätter samt Staub hinaus. Ich fand ein steif gewordenes Stück Decke, das ich so lange gegen die Rückwand schlug, bis es wieder weicher wurde. Damit würde ich mich begnügen müssen.
Der Tag war schon etwas fortgeschritten, ich hatte mein Ziel erreicht und bekam allmählich Hunger. Während ich ein wenig von dem Brot und dem Käse aß, möglichst lange auf einem Stück getrockneten Fleisches herumkaute, sah ich mich gründlich um. Der Mann [21] beim Brandhügel war inzwischen verschwunden. Die Häuser, die ein Dach hatten, schienen bewohnt zu sein, aber dort rührte sich nichts. Ein Esel wieherte und eine Nachtigall begann ihr Lied. Ich trank einen Schluck Wasser und überlegte, wo ich am folgenden Tag Nachschub finden könnte. Berthe hatte mir von einem Fluss hier in der Gegend erzählt. Sie und Julien waren vor nicht allzu langer Zeit hier oben gewesen.
„Such den Fluss und geh dich waschen!“ hatte sie gesagt.
Ich nahm ihr nicht übel, dass sie mir auf diese Weise zu verstehen gab, dass ich dreckig war und möglicherweise ja stank. Berthe meinte es gut. Sie hatte mir Essen mitgegeben und darauf bestanden, dass ich vor meinem Aufbruch eine Schale Milch austrank.
„Alles Gute, Junge, und komm uns besuchen, wenn du dort oben ein Fleckchen gefunden hast.“ Sie schnäuzte sich, als ich den Hof verließ.
Bei dem Gedanken an Berthe spürte ich, wie mir weh ums Herz wurde. Ihr freundliches Gesicht fehlte mir. Julien hatte Glück, so eine Frau zu haben. Er schien mir überhaupt in allem Glück zu haben. Trotzdem beneidete ich ihn nicht, sondern fand eher, dass ich Glück hatte, weil ich Julien kannte. Ich hatte drei Schafe, die zwar noch nicht bezahlt waren, aber mir gehörten. In ein paar Jahren würde ich hundert Schafe haben, ein eigenes Haus und vielleicht sogar eine Frau. Eine Ehefrau zu finden, schien mir am schwierigsten. Die Mädchen im Dorf kehrten mir den Rücken zu, und in dieser Handvoll Häuser schien es wenig wahrscheinlich, dass dort unverheiratete Frauen wohnten. Gut möglich, dass hier nur Männer, Holzfäller und Kohlenbrenner lebten. Ich konnte warten. Es gab jede Menge zu tun: ein Haus suchen und wiederaufbauen, die Herde wachsen lassen und, was am Wichtigsten war, Nahrung für die nächsten Tage finden.
Nachts war da wieder der Gedanke an eine Frau. Ich hörte wieder Berthes Stimme. Sie erzählte von den Kindern in der Dorfstraße. „Hoffentlich bleibt es am Leben“, sagte sie und meinte damit das Kind der Näherin.
„Das Mädchen ist noch jung, aber so blass. Beim ersten Kind kann es manchmal schiefgehen.“
Berthe wusste, wovon sie sprach, sie hatte selbst zwei ihrer fünf Kinder verloren.
Eine Frau und Kinder. Das war etwas, woran ich vorher nie gedacht hatte. Ich war viel zu beschäftigt gewesen mit der Arbeit und dem Leben auf dem Bauernhof, und daheim hatte ich ständig Essen heranschaffen und mich gegen meine Brüder zur Wehr setzen müssen. Jetzt stellte ich mir mich zum ersten Mal als einen Mann mit einer eigenen Familie vor. Ich musste lachen. Wie sollte das gehen?
Meine Gedanken wanderten zu den Mädchen. Zwei Mädchen. Selbst wenn eines sterben würde, war noch immer ein Mädchen übrig, das zu einer Frau heranwachsen würde. Und wenn beide am Leben blieben, hätte ich sogar die Wahl.
Der Gedanke erregte mich. Es war eine angenehme Vorstellung und zugleich unpassend, doch gerade weil es sich wie etwas Unerlaubtes anfühlte, wuchs mein Verlangen. Ich sah zu den Schafen. Es gab Hirten, die kein Hehl daraus machten, dass sie sich manchmal ein kleines Vergnügen mit einem Schaf gönnten. Die drei Mutterschafe lagen neben mir, kauten gemächlich auf dem Gras, das ich für sie gerupft hatte. Ich wandte mich von ihnen ab. Mein Bruder, der Pierre, wäre zu sowas imstande. Und genau deshalb wollte ich es nicht tun. Also dachte ich stattdessen an eine der drei Milchmägde vom Hof. Es ging von selbst. [23] Das mit den Mägden werde ich meiner Frau aber nicht erzählen. Die haben ja keine Ahnung, dass sie mir all die Jahre Gesellschaft geleistet haben. Dass sie mich warmgehalten und mir beim Einschlafen geholfen haben.
Deel 2: Colombe
1890-1895
4.
Amparo und ich hatten auch schon mal Streit. Meist ging es um etwas Belangloses. Wir waren wie Schwestern aufgewachsen, aber weil unsere Eltern nicht im selben Haus wohnten, waren unsere Streitigkeiten schnell wieder beigelegt. Wenn jede von uns wieder bei sich zuhause war und vor sich hin schmollte, vermissten wir einander bald und gingen hinüber. Meistens war ich diejenige, die zur Bäckerei lief, um es wieder gut zu machen, und immer war Amparo direkt froh und erleichtert, mich zu sehen.
Als wir sechzehn waren, kam es zu einem Streit, der mehrere Tage anhielt. Amparo behauptete steif und fest, sie würde nie heiraten. Ich hatte schon einmal mit meiner Mutter darüber geredet. War Amparo denn nicht klar, dass man heiraten musste, um Kinder zu bekommen? Doch sie behauptete, gar keine Kinder haben zu wollen.
„Das geht schon vorüber“, sagte meine Mutter.
Aber es ging nicht vorüber. Und je häufiger ich sagte, ich wolle durchaus Kinder haben und einen Mann, umso öfter wiederholte sie, dass sie das nicht wolle. Ich merkte, dass es sie irritierte, wenn ich davon anfing.
„Und was soll dann aus uns werden?“ fragte sie. Dann malte ich ein Bild von zwei Familien, wie ihre Eltern und meine Eltern, damals nur noch meine Mutter, die in unmittelbarer Nachbarschaft wohnten und Kinder bekamen, die gemeinsam aufwuchsen.
Amparo schüttelte den Kopf.
„Ich nicht“, sagte sie dann.
„Dann heirate eben nicht“, sagte ich. „Aber wir wohnen in der Nähe und ich besuche dich mit meinen Kindern …“, phantasierte ich vor mich hin.
Amparo zuckte die Achseln.
Etwas erschwerte das Ganze jedoch, was ich nicht laut auszusprechen wagte: der Hirte. Was wäre, wenn er um ihre Hand anhalten würde. Würde Amparo dann nein sagen? Wenn sie ja sagte, was ich mir kaum vorstellen konnte, dann würde sie auf dem Berg wohnen und wir könnten uns viel seltener sehen. Schließlich konnte ich sie mit den kleinen Kindern dort schwerlich besuchen?
Und wenn sie Nein sagte, musste ich ihn dann nicht heiraten? Die Vorstellung, er würde eine von uns beiden heiraten, steckte in meinem Kopf und war da nicht mehr rauszukriegen. Vielleicht ja gerade deshalb, weil ich mich nicht traute, darüber zu reden, fing das Ganze an ein Eigenleben zu führen, wurde stärker und es kamen mehr und mehr Details hinzu. Ich sah schon eine Hochzeit vor mir: manchmal mit Amparo, ihr Unwettergesicht hinter einem Schleier, manchmal mit mir, wie ich schmachtend zu meinem Mann emporblicke. Nach und nach schloss ich die Möglichkeit aus, dass Amparo diejenige sein würde und sah mich selbst heiraten, im Dorf, von lachenden Menschen umgeben, die sagen würden: „Na siehst du! Er hat sich eine geholt. Die Hübscheste und Liebste hat er sich ausgesucht.“
Wie naiv ich doch war. Meine Träume wurden so intensiv, dass sie sich über meinen Mund ihren Weg nach draußen bahnten. Und als ich eines Tages mit Amparo von den Nachteilen anfing, die das Wohnen im Weiler auf dem Berg mit sich brächte, wurde sie wütend. „Bloß weil hier eine Geschichte die Runde macht, musst du sie ja nicht in die Tat umsetzen“, sagte sie. „Du bist ein freier Mensch, niemand zwingt dich dazu, ihn zu heiraten.“ Es war deutlich, dass sie es jedenfalls nicht tun würde, obwohl ich manchmal das Gefühl hatte, er würde sie mir ein wenig vorziehen. Amparo war viel stärker als ich und eignete sich weit besser zur Frau eines Hirten.
„Aber vielleicht will ich das ja“, entgegnete ich.
„Wie bitte? Hast du sie nicht mehr alle?“ Sie sprang auf und lief unruhig im Zimmer auf und ab.
„Das ist nicht dein Ernst? Der Mann ist alt! Und gestört! Er belauert uns schon, seit wir klein waren!“ Sie tobte und schlug bei jedem Satz mit der flachen Hand auf den Tisch. Ich stand auf und ging nach Hause. Danach sahen wir uns eine ganze Woche nicht. Ich traute mich nicht, meiner Mutter zu erzählen, worum es bei unserem Streit ging.
Wir versöhnten uns zwar, doch das Thema war noch nicht vom Tisch. Ich ging hinüber zur Bäckerei und leistete Amparo in der Backstube beim Teigkneten Gesellschaft. Sie hatte die Ärmel hochgekrempelt und bearbeitete den Teig, als hinge ihr Leben davon ab. Sie nahm den Klumpen hoch und knallte ihn auf die Unterlage. Ich saß daneben, rollte ein Teigwürstchen zwischen den Händen. Als sie nach einer halben Stunde noch kein Wort gesagt hatte, kamen mir die Tränen.
„Nun hör schon auf“, sagte sie, „ist ja schon gut.“ Sie zog mich hoch, gab mir jetzt die zwei Küsse, die sie mir beim Hereinkommen nicht hatte geben wollen. Ich schlang ihr die Arme um den Hals und zog sie an mich heran. Sie blieb etwas steif stehen. Ich spürte ihre Schultern, ihre Arme, die Muskeln ihres Nackens. Gern hätte ich sie noch näher an mich herangezogen, Amparos Arme um mich gespürt. Ich spürte ihren Oberköper, seine Wärme. Ich roch sie. Sie roch nach Holzfeuer und Teig und nach noch etwas anderen, etwas eigenem. Nach Amparo. Ich spürte ihre Brüste an meine gepresst. Sie waren härter und runder als meine kleinen weichen Hügel, erinnerten mich an die flachen Brötchen, die sie sonntags verkaufte. Ich wollte Amparo einfach festhalten, doch sie eiste sich los.
„Lass uns Kaffee trinken“, sagte sie. An einem Werktag, einfach so, das war ungewöhnlich. Sie mahlte die Bohnen und zapfte heißes Wasser aus dem Ofenreservoir. Der Kaffee schmeckte stärker, als bei uns daheim. Ihre Mutter kam herein, setzte sich zu uns. Ich nahm mir vor, nie wieder von dem Hirten anzufangen.
Obwohl er jetzt öfter im Dorf erschien, hielt ich den Mund. Er kam manchmal, um seinen Vater zu besuchen, der krank war und nicht mehr lange zu leben hatte. Wie gewöhnlich schaute er erst bei Amparos Vater vorbei, um sich rasieren zu lassen. Sein Bart war nicht mehr so lang, wenn er dort ankam, weil er nun öfter kam. Manchmal ging er auch bei meiner Mutter vorbei. Meist wegen einer Kleinigkeit, aber er ließ sich auch eine Hose und eine Jacke nähen, die er auf der Beerdigung seines Vaters trug. Nicht, dass dort viele Leute anwesend gewesen wären: seine Brüder und noch ein paar Nachbarn, berichtete meine Mutter, die ebenfalls dorthin gegangen war.
Ich war daheimgeblieben, obwohl ich gerne mitgegangen wäre. Ich wollte ihn gern gesehen. Hatte sogar das Bedürfnis, ihn zu spüren. Nach der Umarmung mit Amparo dachte ich immer öfter ans Heiraten. Ich dachte an meine Eltern, ihre Umarmungen, an die Blicke, die sie miteinander austauschten, wie sich ihre Hände berührten. Ich vermisste meinen Vater, vermisste es, die beiden zusammen zu sehen, ich vermisste seine Arme. Mein Körper sehnte sich danach, umarmt und liebkost zu werden, meine Haut wollte gestreichelt werden.
15.
Das Waldohreulenweibchen ruft schrill: Kiewit kiewit… Ihr Männchen singt ihr zu. Buh… und dann buh buh uh uh uh. Michel konnte den Vogel gut imitieren. Mir ist, als riefen die Eulen lauter als sonst. Vielleicht ist es hier aber auch nur stiller im Haus. Ich bin zum ersten Mal im Leben vollkommen allein. Ich will nicht schlafen. Ich will nachdenken. Ich will mich erinnern.
© Isabel Hessel | isabel.eva.hessel@gmail.com | +32/479/257754